Christophe Jacrot ‒ „Glück ist nur eine Frage der Zeit“
Kurzprofil
Christophe Jacrot, geboren 1960, lebt in Paris und wurde zunächst durch die Filmindustrie bekannt. Er drehte mehrere Kurzfilme, von denen die meisten mit Preisen ausgezeichnet wurden.
Nach einer Ausbildung zum Fotografen war sein erster kommerzieller Auftrag, sonnige Aufnahmen von Paris für eine Tourismusbroschüre zu machen. Quasi aus einer Trotzreaktion heraus entwickelte er für sich selbst ein künstlerisches Projekt über Städte bei schlechtem Wetter. Aus diesem Projekt entstand 2007 eine erste Ausstellung und sehr schnell sein erster Bildband Paris im Regen (Edition, Chêne).
Im Interview verrät er, warum er die Fotografie mit 18 Jahren zunächst an den Nagel gehängt hat, warum klimatische Zufälle für seine Aufnahmen so wichtig sind, und gibt Einblicke in seine Arbeitsweise und technische Ausstattung.
INTERVIEW MIT CHRISTOPHE JACROT
Wolltest du schon immer Fotograf werden?
Als ich 15 war, bekam ich einen kleinen analogen Fotoapparat geschenkt. Sehr schnell richtete ich mir ein Fotolabor in einem winzigen Keller im Untergeschoss meines Zuhauses ein und begann, sehr viele Aufnahmen um mich herum zu machen. Ich wollte ein gutes Ergebnis erzielen, das war ein starkes persönliches Bedürfnis. Mit 18 jedoch hängte ich die Fotografie an den Nagel! Meine Eltern hatten mich zu einer Fotosafari in der Vanoise zum Thema Steinböcke angemeldet. Ich konnte mit dem Bild des selbstverliebten Fotografen, das mir mein Zimmernachbar vermittelt hatte, nichts anfangen und habe alles hingeworfen. Ich lehnte in der Zeit eigentlich alles ab.
Du hast im Alter von 18 Jahren tatsächlich alles aufgegeben?
Nicht ganz, ich beschäftigte mich stattdessen mit dem Drehen von Kurzfilmen. Dort findet man das Bild wieder, aber in Bewegung. Danach drehte ich einen Spielfilm, der in mehreren Kinos und auf Canal Plus lief. Da ich aber kein Drehbuchautor bin und auch keinen fand, der meinen zweiten Film hätte schreiben wollen, orientierte ich mich um. Ich wurde zum Immobilienjäger, das war damals ein neuer Beruf.
Foto: Christophe Jacrot
Wann hielt die Fotografie wieder Einzug in dein Leben?
Die Fotografie klopfte an meine Tür, als ich 45 Jahre alt war. Es hat mich gepackt, aber ich hatte das Bedürfnis, noch einmal die Schulbank zu drücken und machte eine 4-monatige Ausbildung im Fotojournalismus. Und dann kam ein Auftrag. Ein Reiseleiter suchte dringend Fotografen, die 600 Aufnahmen von Paris machen sollten. Hochmotiviert begann ich mit dem Fotografieren, aber der Frühling war mies und der Reiseleiter gab mir zu verstehen, dass er unbedingt sonnige Fotos wollte. Ich habe mich daran gehalten, ziemlich erfolgreich sogar, denn ich verkaufte ihm 400 Bilder. Meinerseits jedoch fotografierte ich, ein wenig aus Widerspruchsgeist, weiterhin Paris bei schlechtem Wetter, und so kam mir die Idee, diese regnerische Pariser Welt zu erfinden. Die Idee führte im folgenden Jahr zu einem Buch, das von einem großen französischen Verlag herausgebracht wurde.
Was inspiriert dich?
Wenn ich es mir recht überlege, verwende ich seit meiner Reise nach Shanghai eine Strategie, deren Ursprung wesentlich weiter zurückreicht. Ich stöbere zuerst im Internet, Bücherläden oder anderswo und werde von fotogenen Orten angezogen wie ein Magnet. Unter fotogen verstehe ich emblematische Orte, die stark visuell und evokativ sind und etwas in meinem Inneren zum Schwingen bringen.
Wie sieht der nächste Schritt aus, wenn der Ort gefunden ist?
Die Suche nach klimatischen Zufällen! Wenn es stark regnet, ist das Licht ein ganz besonderes und sehr schön, aber ich glaube, ich bin der Einzige, der das sieht, da alle anderen in diesem Moment in Deckung gehen. Ich bin also auf der Jagd nach schlechtem Wetter, schönen Stürmen, Blizzards, Taifunen und Regenwinden aus allen Richtungen… aber ich übertreibe es auch nicht! Ich interessiere mich weder für Naturkatastrophen, extrem heftige Hurrikans noch für Tsunamis. Umgekehrt bin ich aber auch kein großer Fan von leichtem Regen oder Nieselregen.
Ist das manchmal riskant?
Ja, es gibt ein nicht zu vernachlässigendes Risiko, manchmal tritt das erwartete Wetterereignis nicht ein, und das ist wirklich sehr frustrierend! Das ist mir in Boston passiert. Es war ein Sturm angekündigt, und dann kam nicht viel. Er zog weiter im Norden durch. Zum Glück gibt es aber auch wirklich positive Überraschungen.
Foto: Christophe Jacrot
Zählt N.Y. IN BLACK zu diesen Überraschungen?
Ja, ich war Ende 2012 in New York, gerade, als der berühmte Stromausfall nach dem Hurrikan Sandy war. Totaler Blackout in halb Manhattan! Nach Einbruch der Dunkelheit keine Ampeln, keine Leuchtreklamen, keine erleuchteten Fenster, niemand auf der Straße, es war eine apokalyptische Stimmung, irgendwo zwischen dem Science-Fiction-Film „N.Y. 1997“ und einem Kriegsgebiet. Ich kaufte auf die Schnelle ein Stativ, ich hatte keines dabei, Stative sind nicht sehr praktisch bei Stürmen, und ließ mich vollständig von dieser Endzeitstimmung tragen. Einige Fotos wurden des Öfteren mit Bildern von Edward Hopper verglichen. Es ist eine zufällige Analogie, die ihren Ursprung sicherlich im Spiel zwischen Licht und Schatten hat. Aus dieser Bilderserie sollte später das Buch N.Y. IN BLACK entstehen.
Das Bild eines einsamen Fotografen, einer dunklen Silhouette, die sich vollständig auf ihre Arbeit konzentriert, passt gut zu mir.
Woher stammt diese Faszination für den Regen?
Um es mit den Worten eines berühmten Malers auszudrücken: „Ich weiß nicht, wie ich meine Kunst erklären soll, da müssten Sie meine Psyche fragen.“ Dieses geheimnisvolle Wasser, das aus dem Himmel fällt, überrascht mich jedes Mal aufs Neue. Ich tauche ein in eine wattierte Stimmung, eine geschlossene Hülle ohne echten Horizont, die mit Feuchtigkeit gesättigt ist, manchmal bewege ich mich in einer richtiggehenden Suppe. Es ist, als würde die Zeit stillstehen, eine Zwangspause. Es ist auch eine Spannung, ein Ungleichgewicht, nicht ausgeruht, nicht ruhig, und visuell stark.
Du liebst den Regen, die Stürme, die Metropolen, aber man findet dich auch in Island, im Schnee ...
Nach Paris, Hongkong, New York, Tokio hatte ich wirklich das Bedürfnis nach offenen Landschaften, Raum und Natur. Und an Island, wo ein Sturm den nächsten jagt, führte sozusagen kein Weg vorbei. Und so wechselte ich vom Regen zum Schnee und startete eine neue Fotoserie in kalten Ländern. Ich entdeckte das Weiß, die Kälte, die feindselige Natur. Eine Welt, erstarrt und eisig… aber nicht vollständig! Es gibt immer, und wenn auch noch so winzig, einen Funken Leben: Farbtupfer, flüchtige Silhouetten, fliegende Vögel, etwas Poetisches, das in der Schönheit dieses extremen Klimas auftaut. Auf den zu Dänemark gehörenden Färöer-Inseln schienen die farbenfrohen Häuser und die kleinen Kirchen die klimatischen Zufälle einfach wegzulächeln.
Und dann, eines Tages, scheinst du Frankreich wiederentdeckt zu haben.
Ich ließ mich in der Drôme am Fuße des Vercors nieder und fing an, das Aubrac, das Département Cantal, die Cevennen zu durchstreifen... Es handelt sich um eine Umgebung mit kleinen Bergen, die vertrauter, aber auch düster und wenig gastfreundlich ist. Wie sehr ich diese Gegend liebe! Im Vercors habe ich spektakuläre Straßen entdeckt, von denen eine in Vergessenheit geraten ist und seit 10 Jahren wegen ihrer Gefährlichkeit gesperrt ist. Eine kleine Barriere, die es zu überwinden gilt, und man gelangt in eine grandiose Welt aus Felsen und tiefen Schluchten, die direkt aus einem Roman von Tolkien entsprungen zu sein scheint. Ich suche insbesondere die romanhafte Dimension eines Ortes.
Foto: Christophe Jacrot
Gibt es auch unerwartete Erlebnisse?
Ja, zum Beispiel ein inzwischen geschlossenes Schweizer Hotel, das Hotel Belvédère, das eingezwängt in einer Serpentinenkurve in 2200 Metern Höhe steht. Ich habe es auf Instagram entdeckt. Ich habe mir sogar Videos von Motorradfahrern angesehen, die ihre Fahrten mit GoPros filmen, um die Beschaffenheit des Ortes zu verstehen, bevor ich mich selbst auf die Reise begab. Da die Straße im Winter 18 km weiter unten gesperrt ist, hatte ich am Winteranfang, als die ersten Schneeflocken fielen, ein kleines Zeitfenster zum Fotografieren. Als ich im November das 2. Mal zu diesem Ort reiste, war die Straße bereits offiziell mit einer Barriere gesperrt, die es mir gelang zu öffnen. Zu meinem Pech stieß ich auf die zuständigen Mitarbeiter und musste alle meine Argumente aufbieten, damit sie mich durchließen. Sie gestanden mir eine Stunde zu, die ich auf die Minute genau einhielt. Ich war zufrieden.
Welche Schwierigkeiten tauchen auf, wenn du Fotos im Regen oder bei Schneefall machst?
Bei Regen, insbesondere bei Monsunregen, ist das Problem der abrupte Temperaturwechsel und das daraus resultierende Beschlagen… In Asien schalte ich also im Hotel früh am Morgen die Klimaanlage aus, damit der Fotoapparat die Temperatur auf der Straße erreicht. Im Winter besteht das Risiko ebenfalls, wenn ich aus der Kälte draußen in einen beheizten Raum komme.
Und wie machst du die „nassen Regenfotos“?
Du redest bestimmt von den Regenfotos, die ich durch die Scheiben meines Autos aufgenommen habe. Nun ja, glaub mir, das ist kompliziert. Wenn man im Innenraum eines Kleinwagens eingezwängt ist, sind die Möglichkeiten begrenzt, und es ist nicht einfach, den korrekten Abstand zum Motiv herzustellen. Mein Traum ist ein Bus mit seiner riesigen Windschutzscheibe. Außerdem muss es ausreichend regnen, um den Regen ideal darstellen zu können: kleine oder große Tropfen? Sollen sie herabtropfen, herunterlaufen oder glatte Streifen bilden? Es ist eine wahre Kunst, die Scheibenwischer zu benutzen!
Ist ein „Klimafotograf“ also ein Fotograf wie jeder andere?
Ja, außer, dass ich sehr stark vom Wetter abhänge. Für ein gutes Foto kehre ich häufig mehrere Male an dieselben Orte zurück. Ich war zum Beispiel achtmal auf Island. Ich mag diese Art zu arbeiten, sie gibt mir Orientierung, mein Blick verändert sich, die Bilder entwickeln sich weiter. Und ich kehre jedes Mal an den fraglichen Ort zurück, wenn ich nicht zufrieden bin. Für das rote, isländische Haus bin ich viermal an denselben Ort zurückgekehrt. In diesen Fällen ist das Glück nur eine Frage der Zeit.
Und hast du Pläne für die Zukunft?
Ich hätte Lust, Schwarzweiß-Fotografie auszuprobieren, aber ich weiß selbst noch nicht, was ich machen werde!