Der Goldene Schnitt - Inspirationen für die Bildgestaltung
Von Andrea Bruchwitz - Di, 05.12.2017 - 08:40
Im Rahmen der Bildgestaltung von Fotografie und Kunst wird häufig die Bedeutung des Goldenen Schnittes erwähnt. Doch was genau ist der Goldene Schnitt und wie berechnet man ihn? In diesem Tutorial erfahren Sie alles, was Sie über den Goldenen Schnitt wissen müssen.
Was ist der Goldene Schnitt?
Der Goldene Schnitt ist eine seit der Antike bekannte Gestaltungsregel und bezeichnet das Teilungsverhältnis zweier Größen zueinander. Diese Teilung gilt als ausgewogenes Leitmaß und wird vom Menschen als besonders harmonisch empfunden. Der Goldene Schnitt kommt in der Natur und sogar im menschlichen Körper häufig vor, lässt sich aber auch in Kunst, Architektur und Typografie wiederfinden.
Der Mythos des Goldenen Schnittes: Wie berechnen?
Die Ermittlung des Goldenen Schnittes ist ganz einfach: Eine Strecke wird so unterteilt, dass das Verhältnis der kleineren Teilstrecke (b) zur größeren Teilstrecke (a) dem der größeren Strecke zur Gesamtstrecke (a+b) entspricht. Das ergibt die Formel a / b = ( a + b ) / a.
Die Zahl des Goldenen Schnittes wird mit Phi bezeichnet und entspricht etwa dem gerundeten Wert 1,6180. Die Theorie des Goldenen Schnittes wurde erstmals von Euklid aufgestellt (ca. 360-280 v. Chr.). Die Grundlagen der Konstruktionen gehen nicht nur auf Euklid, sondern auch auf Ptolemaios und Heron zurück.
Der Goldene Schnitt und die Fibonacci-Folge
Der Mathematiker Leonardo Fibonacci hat im Jahre 1202 ein Zahlenverhältnis beschrieben, die sich der Zahl Phi weitest möglich annähert. In der Natur ist diese Zahlenfolge überall zu finden – etwa im Wachstum von Kaninchenpopulationen oder in der Anordnung von Blättern. Die sogenannte Fibonacci-Folge beginnt mit der Zahl 1, der jeweils darauffolgende Zahlenwert bildet sich aus der Summe der vorhergehenden Zahlen.
Diese Zahlenfolge steht im direkten Zusammenhang mit den Maßverhältnissen des Goldenen Schnittes: Je größer die Summe im Fibonacci-Verfahren wird, desto genauer nähert sich das Verhältnis der aufeinanderfolgenden Zahlen der Goldenen Zahl Phi an.
Der richtige Abschnitt: Goldener Schnitt in Fotografie und Grafikdesign
In der Fotografie können Sie den Goldenen Schnitt als Hilfsmittel einsetzen, um einen harmonischen Bildaufbau zu erzielen. Da die zentrale Positionierung eines Motivs oft als statisch oder uninteressant empfunden wird, ist diese Aufteilung für die Bildgestaltung höchst interessant. Die Fotografie wird mit zwei waagerechten und zwei senkrechten Strecken im Verhältnis des Goldenen Schnittes in neun Felder aufgeteilt.
Die Ausrichtung des Motivs erfolgt nun anhand der Schnittpunkte und Linien im Raster. So kann der Horizont auf einer der waagerechten Teilstrecken im Gestaltungsraster liegen, während der Mensch im Vordergrund anhand der Senkrechten des Rasters ausgerichtet wird.
Tipp: Der richtige Bildausschnitt ist entscheidend für die Wirkung des Bildes. Nutzen Sie das Stilmittel der Asymmetrie und richten Sie das Motiv leicht versetzt zum Gestaltungsraster aus – so erhält die Symmetrie einen Bruch und es wird zusätzliche Spannung aufgebaut. Durch einen solchen Bruch verwandelt sich jede Herbstfotografie in ein Kunstwerk.
In Bildbearbeitungsprogrammen wie Photoshop können Sie Ihre Fotografie in Drittel einteilen und die Drittelregel ganz einfach anwenden. Trauen Sie sich, die klassische Symmetrie aufzubrechen.
Eine besondere Formgestaltung: Der Goldene Schnitt in der Kunst
Die Formel des Goldenen Schnittes, der auch als Proportio Divina („göttliche Proportion“) bezeichnet wird, zieht sich nicht nur durch die letzten Jahrhunderte, sondern durch die gesamte Kunstgeschichte. Bereits in der Antike taucht das harmonische Verhältnis der Teilung auf: Die berühmte Statue der Venus von Milo zeigt die Göttin Aphrodite schon im zweiten Jahrhundert vor Christus mit goldenen Proportionen.
In der Renaissance weisen die Bildkompositionen von Leonardo da Vinci den Goldenen Schnitt auf. In seinem Gemälde Das Abendmahl markieren die Hände Jakobus' des Älteren, die den Tisch berühren, die Trennungslinie.
Sein weltberühmtes Kunstwerk Mona Lisa ist auf der Fläche des „Goldenen Dreieckes“ aufgebaut (Euklid hat das Goldene Dreieck und seine Symmetrie in der Abhandlung Die Elemente beschrieben). Darunter versteht man ein gleichschenkliges Dreieck mit gleichem Winkel, bei dem Seiten und die Basis im Größenverhältnis des Goldenen Schnittes zueinander stehen. Die Winkel darin betragen 72°, 72° und 36°.
Nutzen Sie den Bildaufbau der Drittelregel für Ihre eigenen Porträtfotografien und experimentieren Sie mit dem Goldenen Dreieck. Wenn Sie sich an den Schnittpunkten orientieren, ergeben sich einige Vorteile: Sie erschaffen eine beeindruckende Komposition voller Symmetrie, die auf den Betrachter ausgeglichen und harmonisch wirkt.
Eine weitere regelmäßige Konstruktion, die dem Goldenen Schnitt entspricht, ist das regelmäßige Fünfeck. Die beiden Diagonalen des Fünfecks schneiden sich im Goldenen Schnitt. Ebenso weist das im Fünfeck durch seine Teilpunkte ein innenliegendes Pentagramm auf, das dem Goldenen Schnitt entspricht. Die Streckenlänge und die durch Schnittpunkte begrenzten Teilstrecken im Pentagramm weisen vier verschiedene Längen auf. Die aufeinander folgenden Strecken haben das Verhältnis Phi.
Tipp: Präsentieren Sie Ihr Porträt als Acrylglas Foto, auf Alu Dibond oder als Fotoleinwand und verwenden Sie einen Bildausschnitt, der dem Goldenen Schnitt entspricht. So strahlt es in leuchtenden Farben und erhält einen besonderen Ausdruck.
Der goldene Streckenabschnitt zieht sich durch die Werke der großen Meister - auch der italienische Maler Raffael hat das Teilungsverhältnis nach Phi angewandt. Der Bildaufbau seines Kunstwerkes Triumph der Galatea besteht aus zwei Teilen: Die Stirnlocke von Raffaels Galatea trennt nicht nur Himmel- und Erdreich voneinander, sondern markiert auch den Teilpunkt des Goldenen Schnittes. In der Bildaufteilung seiner Sixtinischen Madonna können Sie diese Teilungspunkte auch finden – die Teilung verläuft entlang des Nabels der Madonna.
Das Selbstbildnis im Pelzrock von Albrecht Dürer zeigt den Maler um 1500 in einer hierarchischen Pose – diese Darstellung war bis zu jenem Zeitpunkt nur Christus oder Monarchen vorbehalten. Dürers Haare bilden ein Dreieck, dessen Basis das Gesamtwerk nach dem Goldenen Schnitt (Phi) unterteilt. Zudem wird das Gesicht des Malers von senkrechten Linien eingerahmt, welche die Breite des Gemäldes nach den goldenen Maßverhältnissen strukturieren.
Goldener Schnitt: Proportionen von Körper und Gesicht
Leonardo da Vinci hat mit seiner Abbildung Der vitruvianische Mensch ein eindrückliches Maßsystem für den Goldenen Schnitt am Beispiel von menschlichen Proportionen geschaffen. Der Mensch berührt mit seinen Fingerspitzen das ihn umgebende Quadrat, die Sohlen berühren den umlaufenden Kreis. Die Figur ist allerdings nicht nur anhand des Quadrates und des Kreises am goldenen Maß ausgerichtet – auch die Proportionen der einzelnen Körperteile entsprechen dem Goldenen Schnitt.
Das Schönheitsempfinden in der Gesellschaft
Heute orientiert sich nicht nur das Schönheitsempfinden, sondern auch die plastische Chirurgie am Proportionsverhältnis des Goldenen Schnittes, denn dieses Verhältnis wird als besonders attraktiv empfunden. Je genauer Körper- und Gesichtsproportionen der Formel des Goldenen Schnittes entsprechen, desto schöner gilt der Mensch. Nach Auswertungen des US-Schönheitschirurgen Stephen Marquardt entspricht etwa das Verhältnis der als ideal empfundenen Nasenbreite zur Mundbreite dem Wert der Zahl Phi.
Der deutsche Psychologe Adolf Zeising schrieb zu diesem Punkt einmal, dass:
„ (…) wirklich, wie das Gefühl schon längst geahnt, der menschliche Körper ein aus einer Uridee hervorgequollener, in allen seinen Teilen und Dimensionen nach einem und demselben Grundverhältnis gegliederter und inmitten der unendlichen Mannigfaltigkeit seiner einzelnen Formen und der Freiheit seiner Bewegungen ein von vollkommenster Harmonie und Eurythmie durchdrungener Organismus ist.” (A. Zeising)
Goldener Schnitt: Berühmte Bauwerke in der Architektur
Das Vorkommen des Goldenen Schnittes ist also kein Mythos – schon die alten Tempelbauten der Antike entsprechen diesem Kompositionsprinzip. So gilt die Cheops-Pyramide (ca. 2590-2470 v. Chr.) nach heutigen Maßstäben als perfekt proportioniert. Auch der berühmte Tempel Parthenon in Athen, der etwa 450 v. Chr. erbaut wurde, vereint die Proportionen in erstaunlicher Präzision. Das Seitenverhältnis des Überbaus zum Unterbau des Parthenon wurde nach den Regeln des Goldenen Schnittes konstruiert.
Neben dem Parthenon wurden die Petersbasilika in Rom sowie der Kölner Dom nach Phi, nach dem „göttlichen Maß“, erschaffen.
Goldener Schnitt in der Urzeitgeschichte: Steinkeile
Sogar Steinkeile aus der Urgeschichte, dem ältesten Zeitabschnitt der menschlichen Geschichte, weisen die Proportionen des Goldenen Schnittes auf. Die Steinkeile wurden von unseren Urahnen als Werkzeuge benutzt. Einige Steinkeile sind etwa 0,5 bis 1,3 Millionen Jahre alt und weisen immer ähnliche Formen in jenem Teilungsverhältnis auf. So hat sich der Mensch schon zu Urzeiten bei Steinkeilen unbewusst an der Gleichung orientiert, obwohl die Proportionslehre in Schriften noch nicht festgehalten war.
Goldener Schnitt in der Natur: Die Goldene Spirale des Nautilus
Teilt man ein Quadrat nach dem Goldenen Schnitt, also der Zahl Phi, dann entsteht eine Reihe von verschachtelten Rechtecken. Jede Seitenlänge im Rechteck ergibt sich – wie bei Fibonacci – aus der Gesamtlänge der beiden darauffolgenden Rechtecke.
Wenn die Eckpunkte dieser Quadrate in einer gebogenen Linie miteinander verbunden werden, entsteht durch die Punkte dieser Drehungen eine logarithmische Spirale – die „Goldene Spirale“.
Das Kalkgehäuse der Nautilus-Muschel weist annähernd die Steigung einer solchen Spirale auf, die auch bei wachsender Größe ihre Biegungsform nicht verändert. Die symmetrische Spirale durch verbundene Punkte taucht in der Natur überall auf: in Hurrikans, im Blatt eines Farns oder in ganzen Galaxien. Sogar die Spiralen in der Blattstellung von Palmen entsprechen dem Kompositionsprinzip.
Ob Goldenes Dreieck oder Goldenes Fünfeck – mit einer solchen Bildaufteilung erschaffen Sie ein spannungsgeladenes Kunstwerk. Nutzen Sie diese Fokuspunkte als Hilfsmittel für Ihre eigenen Fotografien, um einen spannungsgeladenen Bildaufbau zu kreieren. Spielen Sie mit der Asymmetrie in Ihren Werken und nutzen Sie die antike Gleichung!
Tipp: Haben Sie schon Aktionen unternommen, um das Teilungsverhältnis in Ihre Werke einzubauen? Präsentieren Sie das Motiv als großformatiges Kunstwerk und lassen Sie das Foto auf Leinwand drucken. Besonders Fotocollagen wirken eindrucksvoll, wenn sich die Gleichheit der Drittel-Komposition durch alle Werke zieht. Gestalten Sie eine Reihe von Fotografien, die nach dem Goldenen Schnitt ausgerichtet sind.
Ob im menschlichen Körper, in der Blattstellung von Palmen, bei alten Steinkeilen, in der Innenarchitektur oder im Bildaufbau alter Kunstwerke: Das Seitenverhältnis des Goldenen Schnittes findet überall seinen Ausdruck. Dennoch ist die Gleichung ein atemberaubendes Phänomen, dessen Ursprung im Verborgenen bleibt. Der deutsche Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker hat das Mysterium dieses Schönheitsempfinden in Worte gefasst: „Vielleicht ist die allgegenwärtig verborgene Mathematik der Natur der Seinsgrund aller Schönheit.“
Andrea Bruchwitz